Wildtiere sollen Wildtiere bleiben – die negativen Folgen von Langzeitpflege durch Lai*innen
Tierfreund*innen neigen dazu, oft vorschnell vermeintlich verletzte oder hilflose Wildtiere aufzunehmen. Die Wiener Umweltanwaltschaft bemüht sich durch Aufklärung das Bewusstsein bei Lai*innen zu schärfen, wann eine Aufnahme wirklich nötig ist und wann sie überflüssig ist. Wildtier-Pfleglinge, die sich lange Zeit in den Händen von Lai*innen befanden, leiden oft unter falscher Pflege, verlieren ihre Scheu vor den Menschen und die Fähigkeit, selbständig Nahrung zu suchen. Gesund gepflegte, wieder auswilderbare Wildtiere, müssen neben der körperlichen Fitness auch artspezifisches Verhalten (Nahrungssuche, Erkundungsverhalten, Fortpflanzungsverhalten/Partnersuche, intraspezifische Kommunikation etc.) zeigen, um selbstständig in freier Wildbahn zu überleben.

Gemeinsam mit der Stadt Wien - Umweltschutz (MA 22) finanzierten wir ein Forschungsprojekt der Wildtierhilfe Wien zu den Auswirkungen von Langzeitpflege auf die körperliche Fitness und das Verhalten von Wildtier-Pfleglingen. Dabei wurden im Zeitraum von 01.02.2022 bis 31.10.2022 Wildtiere erfasst, die von Privatpersonen oder von nicht auf Wildtiere spezialisierten Tierheimen und Tierarztpraxen an die Wildtierhilfe Wien abgegeben wurden. Dabei wurden auch ihr Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand (Verletzungsgrad, Blutwerte, Ernährungszustand, Körpertemperatur etc.) und Verhalten (gegenüber Artgenossen oder Menschen, Erkundungsverhalten...) notiert.

Ernährungs- und Pflegezustand sowie die medizinische Versorgung sind mangelhaft

wildtierhilfe langzeitpflege1 kleinVon 429 im Zeitraum abgegebenen Wildtieren befanden sich 29 Tiere (6,8 %) in der Obhut von Lai*innen in Langzeitpflege. Darunter waren Weißbrustigel, Feldhasen, Siebenschläfer, Vögel wie Stadttauben, Kohlmeisen, Eichelhäher, Stieglitz, Rauchschwalben, Aaskrähen, Haus- und Feldsperlinge, Mauersegler und Amseln. Ein Großteil davon war bei der Aufnahme schwer verletzt.

Von diesen 29 Langzeit-Pfleglingen wurden 31 % (neun Tiere) nicht artgerecht und altersgemäß ernährt (falsche Menge oder die Tiere wurden zwangsgefüttert, wenn die freiwillige Nahrungsaufnahme eingestellt wird). Die Wiener Umweltanwaltschaft empfiehlt grundsätzlich, verletzte Wildtiere nur kurzfristig zur Erstversorgung aufzunehmen und ihnen in geeigneter Umgebung (z. B. in einem dunklen, luftdurchlässigen, sichtgeschützten Karton mit Stroheinlage) Wasser zur freiwilligen Aufnahme bereitzustellen (z. B. in einem verkehrten Marmeladenglasdeckel, einer flachen Schüssel). Niemals darf man ihnen Wasser oder Futter einflößen (Erstickungsgefahr). Geeignetes Futter zur freiwilligen Aufnahme ist nur dann bereitzustellen, wenn telefonisch kontaktierte Expert*innen dies ausdrücklich empfehlen. Möglichst bald sollten die Tiere aber in professionelle, wildtierkundige Obhut überstellt werden.

Mehr als die Hälfte der 29 bei Wildtierhilfe Wien abgegebenen Langzeit-Pfleglinge konnte letztlich mit viel Mühe gesund ausgewildert werden, während der Rest verstarb oder euthanasiert werden musste. Von acht Tieren ist bekannt, dass sie in privaten Wohnräumen gepflegt wurden. Mehr als die Hälfte befanden sich in einem schlechten bis mäßigen Pflegezustand (41 % in gutem Pflegezustand), was zumindest teilweise mit der Haltung bei Lai*innen in Zusammenhang gebracht werden kann. 24,1 % wiesen einen mageren und 24,1 % einen durchschnittlichen Ernährungszustand auf, während dieser bei 17,2 % der Langzeit-Pfleglinge auffällig schlecht war.

Nur sieben von 29 wurden vor der Abgabe bei der Wildtierhilfe Wien bereits zu einer Tierarztpraxis gebracht. In fünf Fällen erfolgte eine Behandlung ohne tierärztliche Verordnung und Verschreibung (z. B. mit Hausmitteln, Medikamenten für Mensch und Haustiere, homöopathischen Globuli). Von diesen fünf mussten letztlich vier Patienten eingeschläfert werden oder verstarben. Fehleinschätzungen des Krankheitsbildes (z. B. nicht erkannte Knochenbrüche) und Fehlbehandlungen können zu enormem Tierleid führen. Manche Tierfreund*innen nehmen eine äußerst kritische Haltung gegenüber schulmedizinischer Versorgung sowie Wildtierauffangstationen ein und fordern ihren Schützling nach dem Aufpäppeln zurück - Konflikte sind vorprogrammiert. Doch Wildtiere sind keine Haustiere - sie benötigen die Freiheit der Natur für ein erfülltes Leben.

Jungtiere in menschlicher Obhut und Fehlprägung

wildtierhilfe langzeitpflege 2 kleinDie Wiener Umweltanwaltschaft rät, Jungtiere mit Fell oder einem Federkleid nur bei sichtbarer Verletzung oder wenn nach mehrstündiger Beobachtung aus der Ferne mit Sicherheit festgestellt wird, dass es sich um Waisen handelt, mitzunehmen. Noch nackte, warmblütige Jungtiere sollten, wenn möglich, zurück ins Nest oder in den Bau gesetzt werden. Ist dies nicht möglich, so sollten sie ebenfalls mitgenommen, mit einer Wärmeflasche versorgt und ebenso wie verletzte, befiederte oder behaarte Jungtiere zeitig bei lokalen, wildtierkundigen Auffangstationen abgegeben werden. Während eine gewisse Gewöhnung an Menschen, z. B. während der Aufzucht, Stress bei Pfleglingen reduziert, ist eine Entwöhnung von und Scheue vor dem Menschen vor der Auswilderung überlebenswichtig. Prägung stellt eine spezielle Form des Lernens dar, die unabhängig von Belohnung und Bestrafung erfolgt und nur während eines kurzen Zeitfensters (sensible Phase) möglich ist, in welchem Tiere besonders empfänglich für bestimmte Umwelteindrücke (z. B. richtige Nahrung, Paarungspartner, Elterntiere, Lebensraum) sind.

Eine Fehlprägung auf den Menschen oder artfremde Tiere erschwert das Überleben in freier Wildbahn und senkt den Fortpflanzungserfolg. Die Anfälligkeit für Fehlprägungen variiert je nach Tierart (z. B. soziale Arten mit langer Aufzuchtphase wie Krähen und Tauben sind in diesem Zusammenhang besonders gefährdet). 18 % der 29 bei der Wildtierhilfe Wien abgegebenen Langzeit-Pfleglinge wurden als zu zahm für eine Auswilderung beurteilt, wovon eine per Hand aufgezogene Aaskrähe fehlgeprägt war. Bei 29 % war das natürliche Verhalten durch ihre starke Verletzung beeinträchtigt.

Wer ist überhaupt noch auswilderbar und wie wird Fehlprägung vermieden?

Ein Ziel des Projekts war, einen Kriterienkatalog zur Verhaltensbewertung für zukünftige Wildtier-Pfleglinge zu erstellen, bei dem auf den Patienten zutreffendes Verhalten angekreuzt, mit Punkten gewichtet und anhand einer Skala beurteilt werden kann. Je nach Punktezahl ist entweder eine baldige Auswilderung möglich, eine Änderung des Pflegeprotokolls oder bei schwerwiegenden Verhaltensstörungen (z. B. Selbstverstümmelung, drei Wochen vor Auswilderung keine Aufnahme arttypischer Nahrung ohne menschliches Zutun, Balzverhalten gegenüber Menschen oder artfremden Tieren) Euthanasie anzuraten. Dieser Katalog soll die Entscheidung über weitere Maßnahmen unterstützen.

Erfahrungen der Wildtierhilfe Wien zeigen, dass es mit hohem Zeitaufwand und einer mehrwöchigen Haltung in einer Außenvoliere ohne menschlichen Kontakt grundsätzlich möglich ist, einst zahme Wildtiere wieder scheu auszuwildern. Allerdings konnte bei diesen erfolgreich ausgewilderten Tieren nicht durch ein umfangreiches Monitoring überprüft werden, wie gut sie in Wildnis zurechtkamen und sich fortpflanzen konnten. Um Fehlprägung vorzubeugen, empfiehlt sich die Aufzucht in ruhigen, abgedunkelten Räumen mit möglichst wenig Sichtkontakt zum Menschen (insbesondere zum Gesicht) durchzuführen, wenn möglich, zusammen mit gleichaltrigen Geschwistern derselben Art und beim Abspielen von Lautäußerungen der eigenen Art.

Es kann nicht oft genug betont werden, die Finger von einer Handaufzucht oder der Haltung aufgenommener Wildtiere als Haustiere zu lassen und Wildtierfindlinge im Sinne ihres eigenen Wohlergehens stattdessen bei wildtierkundigen Auffangstationen abzugeben.

Mehr Informationen:

Wildtierhilfe Wien (Fränzle R., Moser-Gattringer E.) (2022), Inappropriate Human Possessions - Auswirkungen von Langzeitpflege auf körperliche Fitness und Verhalten von Wildtier-Patienten

© Fotos: Ramona Cech

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